behindert

Leonie Mühlen

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10 min liege ich auf dem Gehweg, vielleicht auch nur 5, keine Ahnung. Jedenfalls denke ich, dass das voll inszeniert wirkt, weil ich von dort, wo ich liege, U‘s Zimmerfenster sehen kann – wir haben uns gerade erst getrennt – was heißt, dass er mich auch sehen könnte. Vielleicht denke ich das auch erst hinterher und falls ich was in dem Moment gedacht habe, dann wahrscheinlich, dass es mir voll unangenehm ist, hier so auf dem Boden zu liegen, Leute, die um mich rumstehen, und dass es dringend zu vermeiden gilt, dass jemand einen Krankenwagen holt. Auf dem Heimweg heule ich und humple; Leute überholen mich mit gesenktem Blick. Ich fühl mich, als wäre ich ein Druffie und hätte mir in die Hosen gekackt. Jedenfalls hab ich Rotze im Gesicht, die ich nicht wegwischen kann. Mein rechter Arm hängt neben mir, mit links versuche ich schlenkernd und humpelnd das Rad zu schieben, aber mir fehlt die linke Hand dafür. Vor dem Haus fischt die durchgeknallte Nachbarin von gegenüber meinen Wohnungsschlüssel aus meiner Tasche und schließt damit die Hoftür für mich auf. Sie bleibt eine Weile stehen und guckt im Hof rum, wahrscheinlich, weil sie auch nicht so recht weiß, wie mit der Situation umgehen. Ich bleib auf den Stufen vor der Haustür hocken, weil ich die Treppen nicht hoch komme. Zuerst ruf ich beim Orthopäden an, dann verschiedene Leute mit Autos. C holt mich ab und legt meinen Arm und mein Bein in sein Auto. Am Tresen im Krankenhaus zieht er eine FFP2-Maske über mein Gesicht, das vom getrocknetem Rotz und Tränen klebt. Ein Mann mit Schlüsselband begleitet mich wortlos über die Flure in die Notaufnahme. Auf halbem Weg geht er unvermittelt vor mir auf die Knie, um meinen Schuh zu binden. Nett, denke ich. Im Zimmer soll ich mich auf eine Liege legen, ich kann nicht.

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Der Krankenpfleger hebt mein rechtes Bein auf die Liege und dann meinen rechten Arm. Was mit meiner Hand wär, fragt er und meint die Linke. Ich: Von Geburt an, warum? Er: Berufliche Neugier. Ich: Dass es immer dasselbe ist mit Leuten aus dem medizinischen Bereich, und ich ihm ja auch nicht auf mein berufliches Interesse hin persönliche Fragen stelle. Der Arzt kommt rein und will wissen, was mit meiner linken Hand ist. Ich: Seit Geburt an. Der Krankenpfleger schaut zu Boden. Erst dann fragt mich jemand, was mit dem runterhängenden Arm ist, mit der Leiste und dem Bein. Der Tonfall klingt jetzt weniger interessiert. Später soll ich mich auf eine andere Liege in einem anderem Zimmer legen und bin eine Weile allein. Das rechte Bein ist angewinkelt aufgestellt. Ich lieg so halb auf der linken Seite, stütze mich auf den unteren Arm, der rechte liegt auf meiner Hüfte. Die Pose sieht fast aufreizend aus, denk ich und gleichzeitig ziemlich dämlich. Ich hab Durst und muss aufs Klo, was auch der Arzt feststellt, als er wie ein Wahrsager tut, während er mit dem Ultraschallkopf auf meine Blase drückt. Meine Sporthose ist halb runtergezogen, auf meinem Bauch ist Ultraschallgel. Der Arzt, der nur wenig älter als ich ist, reicht mir Papierhandtücher. Ich hab keine Hand, sie zu nehmen und ich habe keine Hand, um das durchsichtige Gel auf meinem Bauch aufzuwischen. Die rosa Unterhose ist oben vom Gel nass. Auf der Suche nach einem Klo, humple ich bis ans Ende des langen Flurs – am ersten Behindertenklo vorbei, wahrscheinlich weil ich beim Anblick des Rollstuhlsymbols denk, dass ich da nicht drauf darf, weil ich nicht behindert bin. Ein paar Stunden später sitze ich allein in einem bestuhlten Wartebereich. Ich hab Durst und angle mit der fehlenden Hand eine Wasserflasche von dem Servierwagen neben mir und bekomme sie nach einer Weile auf. Ich drücke meinen Mund auf die Flaschenöffnung, mit der fingerlosen Hand drücke ich vom Boden dagegen, kippe Kopf und Flasche nach hinten.

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Behindert sieht das aus, denke ich, während Wasser meinen Hals runter und in mein T-Shirt läuft. Meistens vergess ich das, dass ich behindert bin, solang es einen die Leute vergessen lassen. Nach mehreren Stunden werde ich entlassen. Mein Handyakku ist leer und ich hab zwar C‘s Nummer mit Kuli auf meinem Arm stehen, er hebt aber nicht ab und ich hab kein Geld dabei. Also laufe ich nach Hause und trage meinen Arm vor mir her. Unterwegs geht mein Schuhband dauernd auf und ich muss fremde Menschen fragen, ob sie mir die Schuhe binden können. Ich lauf fast eine Stunde, halt den Hunger kaum mehr aus. Als ich das dritte mal jemanden bitte, mir die Schuhe zu binden, will ich fragen, ob die Person mir was vom Bäcker kaufen kann, aber es fühlt sich alles schon komisch genug an, also frage ich nicht. Zuhause stelle ich fest, dass ich nichts kochen kann, eigentlich fast nichts kann. Ich bin überfordert und hungrig und muss wieder heulen. Ich ruf L an, ob sie mir was zu essen bringt. L kann nicht und fragt, warum ich nicht bei Lieferando bestelle. Ich hab mir noch nie Essen nach Hause bestellt, deswegen bin ich da nicht allein drauf gekommen. Das Treppenhaus ist so eng, dass der Lieferant mit seinem Würfelrucksack nicht um die Kurven kommt. Er zieht den Rucksack unten ab und kommt mit der Styroporbox in der Hand die Treppe hoch, bis in den dritten Stock. Ich kleb mit Klebeband einen Löffel an den linken Arm. Am nächsten Tag bringt jemand bunte Strohhalme mit, weil ich die Tassen und Gläser nicht heben kann. Jeden Tag kommt jemand anderes vorbei, kocht Essen, macht den Abwasch, oder hängt meine Wäsche auf. In der Schule hat sich F mal beide Arme gleichzeitig gebrochen und immer, wenn er aufs Klo musste, ist jemand mit, um ihm den Schwanz zu halten. Ich hab ihn damals gefragt, ob seine Freunde ihm auch den Arsch abwischen. Er meinte, das macht seine Mutter. Das war in der 7. Klasse, seitdem lebe ich mit der Angst, mir die rechte Hand oder den rechten Arm zu brechen. Zum Glück kann ich mir selbst den Arsch abwischen, denke ich dann, das ist doch schon mal was.