Die letzte Postkarte
Victoria Hohmann
Seite1
Die letzte Postkarte von meiner Mutter war eine zum Geburtstag. Die Schrift war seltsam krakelig, bemühte sich sichtlich Zeilen einzuhalten, manche Buchstaben wirkten wie aus dem Schreibheft einer Erstklässlerin, zwei Worte waren komplett durchgestrichen, mit einem ganzen Wust von Linien, wie in Spinnennetzen verfangen. Einen Moment lang wollte ich diese Geburtstagskarte als nachlässig lesen, unser angespanntes Mutter-Tochter-Verhältnis hineindeuten und sie verletzt auf den Frühstückstisch legen. Aber ich konnte nicht aufhören diese kantigen Linien anzustarren, die sich verrenkten, ausbrachen, von einem unglaublichen Willen wieder eingefangen wurden und liebevoll zu Worten gebogen, die mir alles Gute wünschten. Ich hatte die Schrift meiner Mutter immer bewundert, ihren Schwung, raumgreifend und elegant, ihre selbstsichere Gleichmäßigkeit, ihre irgendwie eindeutig feminine Art, unverkennbar und gleichzeitig sehr zugänglich, sehr lesbar. Feminin erschien mir ihre Handschrift vielleicht nur, weil meine immer aus hingefegten Zeichen bestand, gegen ihre technisch kühl aussah, oft unleserlich, gerne als typische Jungsschrift bemängelt wurde. Jetzt brach diese schöne Schrift meiner Mutter, der Deutschlehrerin, der Englischlehrerin, der Frau, die in mindestens fünf Sprachen fließend Postkarten schreiben konnte und dies an Freund:innen in aller Welt auch tat, auf weißer Pappe auseinander. Oder bäumte sich auf. Gegen die rosa Rosenwucht des Postkartenmotivs. Nein, gegen etwas viel Gewaltigeres. In diesem Moment war ich mir sicher. Was ich seit mehr als einem Jahr befürchtete, was sich lange als Erschöpfung, als Burnout, als müdigkeitsbedingte Vergesslichkeit hatte abtun lassen, war etwas anderes. Als ich meine Mutter anrief, um mich für die Karte zu bedanken und auch für die Geburtstagsgabe per Überweisung, entschuldigte sie sich für ihre Schrift.
Seite 2
Sie habe momentan eine Schreibblockade. Ich sagte nichts dazu. Das schaffte ich erst zwei Jahre später. Als es auch mit dem Lesen vorbei war. Mit dem selbständigen Reisen. Mit dem Autofahren. Auch wenn es mit dem Telefonieren immer noch klappte, obwohl ich dabei mittlerweile deutlich mehr sagen musste als sie, ihr mit Wörtern aushelfen, ihre Gedanken aussprechen. Die Krankheit verschwiegen wir dabei trotzdem fast immer. Sie war tabu. Ein Brandmal. Gesellschaftsunfähig. Auch familienintern No-Go. Als sei das Schweigen Heilmittel. Als könne man den Verlauf verzögern, indem man dem Unaussprechlichen keinen Raum gab. Vergeblich tat, als sei alles wie immer, oder zumindest nur ein bisschen anders. Die Krankheit drohte meine Mutter aus allen Kontexten zu reißen. Wurde von manchen, auch von ihr selbst, lange mit Dummheit gleichgesetzt. Meine Mutter hatte Angst, dumm zu werden. Hatte sie sich doch aus armen Arbeiterverhältnissen erfolgreich in die akademische Welt gekämpft. Als Feministin in den späten 70ern und frühen 80ern mit Woolf, Eliot und Beauvoir provinzielle vhs-Kurse aufgemischt. War ihr Leben lang mit furchtlosen Fragen angeeckt, als Lehrende, als Fördernde, als Fordernde. Jetzt verschlug es ihr die Sprache. Es, das waren Ablagerungen im Gehirn, sogenannte Plaques, eine Plage bestehend aus nicht intakten Beta-Amyloid-Peptiden, dazu chemisch veränderte Tau-Proteine und dysfunktionalen Gliazellen. Vermutlich im Verbund verantwortlich für die selbstzerstörerischen Prozesse einer Alzheimer-Erkrankung.
In meiner Erinnerung wasche ich meiner Mutter die Haare. Sie trägt einen schwarz-weißen Frisierumhang. Auf dem sind Friseurutensilien abgebildet: Föhn, Schere, Kamm. Am Anfang sind es Kleinigkeiten wie das Haarewaschen.
Seite 3
Das ist lange vor der Inkontinenz. Vor den Schreien. Vor dem ewigen im Kreis, den Bahnen durch fremde Räume. Sie geniert sich immer noch ein wenig, als ich ihr den Kopf einschäume. Ist gleichzeitig dankbar. Ich achte auf eine angenehme Wassertemperatur, auf einen sanft in den Nacken gebogenen Kopf, damit kein Auge brennen kann, kämpfe dabei mit den Tränen, föhne gründlich auf Stufe Zwei. Creme ihr im Anschluss das Gesicht ein. Mit ihrer Lieblingscreme, die ich ihr zum Geburtstag geschenkt habe. Die Maniküre verschieben wir auf den nächsten Tag, sie ist unruhig, will nicht zur Last fallen. Auf beiden Seiten ist es ein Gewöhnen. An etwas, an das man sich nicht gewöhnen will. Nicht gewöhnen kann, denkt man. In den ersten Jahren. Ist es ein Versteckspiel, ein Kopf wegdrehen, ein mehrfaches Schlucken, ein jetzt jetzt jetzt so viel wie möglich noch machen, noch einmal aufs Boot, noch einmal auf den Berg, noch einmal schwimmen, fliegen, feiern, noch einmal alle zusammen. Aber Demenz tötet nicht. Zumindest nicht schnell. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Niemand kann den individuellen Verlauf voraussagen. Es kann dauern, bis das Schlucken nicht mehr klappt, bis der Atem stockt. Manchmal Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte. Aber von Anfang an ist da der Abschiedsmodus. So viele Abschiede. So viele letzten Male. So viel Angst, einander nie wieder zu sehen. So viel Staunen dann, beim Wiedersehen: Das Leben ist stark. Es geht aufrecht, solange es geht. Lacht. Trotzt. Erinnerungen und Zeiten lösen sich auf, wirbeln durcheinander. In einem Raum können sich hunderte Orte in Minuten versammeln, nein, der Raum sich in diese hundert Orte.
Seite 4
Ich kann meiner Mutter gegenübersitzen und zwanzig Jahre jünger sein. Meine Tochter kann ins Zimmer kommen und ich sein und dann wieder sie selbst. Und dann können sie und ich verschwinden, vor den Augen meiner Mutter, obwohl wir uns nicht vom Platz bewegen und Sekunden später wieder auftauchen als die, die wir tatsächlich sind, bei ihr, hier, auf Besuch. Manchmal halte ich es nicht aus. Manchmal tut es gut, plötzlich sechzehn zu sein. Hatte ganz vergessen, dass es in mir steckt. Namen kommen, gehen. Manche bleiben. Oder tauchen überraschend nach Monaten wieder auf. Genau wie Begriffe, Reime, Lieder. Demenz ist ein langsames Verschwinden, ein Zerreißen der Zeit, durch deren Splitter meine Mutter ihre Kreise zieht, in gefütterten Hausschuhen. Allen Angehörigen ist jeder Normbegriff entglitten. Alles ist zur Ausnahme geworden. Und in diesem permanenten Ausnahmezustand war die Scham plötzlich weg. Mit den ersten vollen Windeln. Konnten plötzlich alle über diese ganze Scheiße lachen. Auch meine Mutter. Hoch soll sie leben, sangen wir in jenem Jahr. Lachten uns frei bei Aprikose in der Hose. Auch meine Mutter. Lachten und weinten. Wenn es egal ist, wenn man schon sterben muss, warum nicht mit Windel ins Theater gehen? Warum nicht im Restaurant füttern und gefüttert werden? Warum nicht gemeinsam ans Meer fahren? In den ersten sieben Jahren war das Tabu der Krankheit gefährlicher für meine Mutter als die Krankheit selbst. Die Blicke der anderen, das Tuscheln, die entsetzten Diagnosen: Die ist ja dement! Mittlerweile sagt die Verkäuferin im Supermarkt zu meinem Vater, wenn er sie sucht, Sätze wie: Ihre Frau steht beim Grillfleisch.
Seite 5
Manche gucken, klar. Aber die meisten erzählen von den eigenen Fällen in der Familie. Kaum eine Familie, die Demenz nicht kennt. Warum Demente verstecken, solange sie mobil sind? Warum Demente nicht dement sein lassen? Demenz ist nicht ansteckend. Demenz ist nicht gefährlich für Außenstehende. Demenz braucht keine Abstandsregeln, sondern Nähe. Demenz, diese radikale Dekonstruktion. Bei der die Gefühlsebene unbeeinträchtigt bleibt. Wie sehr wir fühlende Wesen sind, wie ausgeprägt unser Gefühlskosmos, ganz anders als bei künstlicher Intelligenz.
Das Aufgeben des Funktionierens ist Thema jeder Krankheit. Das Aufgeben der Tod. Das Funktionieren nicht das Leben. Kranke wegzusperren ist immer noch eine Krankheit unserer Zeit. Wir haben uns als Familie dagegen entschieden, sind in diesem Jahr sogar mit meiner Mutter ans Meer gefahren. Nach fast neun Jahren ist sie in einem Zustand, den Online-Beratungsportale technisch als „spätes Stadium“ abtun. Meine Mutter lebt weiterhin zu Hause. Mein Vater pflegt sie. Zu Beginn hätten wir es nicht für möglich gehalten in einem solchen Stadium mit meiner Mutter zu verreisen, bzw. nicht gedacht, dass es so problemlos sein könnte. Schwierig war im Grunde nur, eine passende Unterkunft zu finden. Weil Kranke auf Reisen gesellschaftlich nicht vorgesehen sind. Die meisten Angehörigen müssen ihre Pflegefälle für die Urlaubszeit ins Heim geben. Damit sie nicht stören, die Welt der Gesunden, der Intakten, der Funktionstüchtigen mit ihrer Anwesenheit. Warum sollten Kranke auch reisen? Was wollen die denn noch? Weg mit ihnen, ins Wartezimmer des Todes. Was ist das für ein menschenverachtendes Narrativ? – Meine Mutter ist hin und weg. Vom Meer. Kurz weg, dann wieder da, dann wieder irgendwohin.
Seite 6
Ich mache ein Foto. Rufe meinen Eltern zu: Schaut mal her. Mein Vater schaut. Auch meine Mutter dreht den Kopf. Ist plötzlich da, für einen Moment. Sieht mich. Ich sehe: Versteht den Strand, die Situation. Lächelt. Taucht dann wieder ins Nichts. Am Ufer des Meeres. Ein Kommen und Gehen. Als Angehörige lernst du Nuancen unterscheiden. Spürst. Als aufgewühltes Wesen. Algen und Muscheln. Seetang und Möwen. Belastung und Freude. Alles in Wellen.
Zurück vom Meer laden wir Freund:innen meiner Mutter ein. Zeigen Fotos, erzählen. Von einer fällt meiner Mutter der Name ein, sie sagt ihn gleich mehrmals hintereinander. Das gab es lange nicht. Aber klar, sie war im Urlaub, ist erholt. Demenz ist eine seltsame Krankheit. Alles ist irgendwie da, kann aber nicht abgerufen werden. Ständig der Konflikt mit dem Nichts. Das Nichts als Drohung und Mysterium. Wenn auf allen Seiten die Akzeptanz gewachsen ist, wird das Nichts ungleich Vernichtung. Es ist dann einfach da. Alle gehen damit um. Sterben wird akzeptierter Teil des Lebens. Ohne Wegschauen. Ohne anderen im Supermarkt, auf der Straße, am Strand das Leben zu versauen. Der Tod versaut das Leben nicht. Letztlich macht er es aus. Es ist viel schöner, wie wir mittlerweile miteinander umgehen, zu Hause. Meine Mutter lehrt uns, offene Wunden sein zu dürfen. Alle in der Familie sind ehrlicher miteinander geworden, geduldiger, verständnisvoller. Das, was nicht mehr funktioniert, hat uns neue Wege finden lassen. Ein absterbendes System lässt uns befreit von Tabus improvisieren. Jeder Tag mit Demenz ist anders, nichts stringent, nichts vorhersehbar. Ein Merkmal der Krankheit. In der das Zen steckt. Wenn das Verlaufen in Raum und Zeit einer neuen Phase weicht.